Bodyshaming mit Lipödem – Kampf gegen Vorurteile
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Ich habe gesiegt
„Heute ist der erste Tag, an dem ich mich auf die Straße traue, einfach so, ohne mich zu schämen und ohne vorher lange zu überlegen, wie ich meine Beine verbergen kann. Denn endlich habe ich gelernt, sie zu akzeptieren, wie sie sind. Es hat lange gedauert, bis es so weit war …“
Dies ist die Geschichte von Marie A. (19). Sie hat sie mir erzählt, damit anderen Menschen mit Lipödem schneller geholfen wird als ihr.
Wie alles begann
Die ersten Symptome bemerkte ich, als ich gerade mal sechszehn Jahre alt war. Ständig hatte ich schwere Beine, abends waren sie geschwollen und viel dicker als zuvor. Zuerst dachte ich mir nicht viel dabei. Vielleicht hatte ich es mit dem Sport übertrieben oder aber zu wenig gemacht, zu viele Stunden gestanden oder einfach etwas gegessen, das mir nicht bekommen war. Bestimmt würde es bald besser werden.
Daten und Fakten
Nach Schätzungen der Krankenkassen leiden in Deutschland derzeit rund 3,8 Millionen Frauen an einem Lipödem. Darunter wird eine Fettverteilungsstörung verstanden, deren Folge eine unkontrollierte Fettverteilung in den Beinen, in der Hüfte, im Gesäß oder auch an den Armen ist.
Ich verlor die Kontrolle – über meinen Körper und mich selbst
Leider erwies sich mein Optimismus als unbegründet. Tatsächlich befand ich mich noch ganz am Anfang einer langen, schmerzhaften und schwierigen Reise, bei der ich einige Male kurz davorstand, einfach aufzugeben. Heute, drei Jahre später, bin ich sehr stolz darauf, mich nicht in einer Depression verloren zu haben. Das hätte leicht passieren können, wie ich heute weiß. Doch der Reihe nach: Meine Beschwerden besserten sich also keineswegs. Stattdessen gesellten sich weitere hinzu. Blaue Flecken an den Beinen, ständige Schmerzen – allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun. Was, wenn das nun so blieb?
Meine Beine hatte ich nie sonderlich gemocht, da sie für meinen Geschmack schon immer hätten ein bisschen schlanker sein können. Aber schlimm fand ich sie nicht. Das änderte sich nun. Meine Beine wurden dicker und dicker, ohne dass ich gewusst hätte, wieso. Ich fing an, mich in meinem Körper fremd und unwohl zu fühlen. Das, was ich sah, wenn ich in den Spiegel schaute, hatte nichts mit dem zu tun, wie ich mich fühlte. Um abzunehmen, ging ich dreimal die Woche in ein Fitnessstudio. Doch der Erfolg blieb aus. Meine Beine wurden weder schmaler noch durchtrainierter. Stattdessen war meine Haut inzwischen weich und voller Dellen.
Gut zu wissen
Bei einem Lipödem handelt es sich um eine chronische Erkrankung des Unterhautfettgewebes. Sie wird in drei Stadien eingeteilt:
Stadium 1: Die Hautoberfläche ist glatt und weist noch keine Unregelmäßigkeiten auf.
Stadium 2: Die Hautoberfläche ist uneben und weist wellenartige Dellen (ähnlich wie Cellulite) auf.
Stadium 3: Es gibt eine ausgeprägte Umfangsvermehrung des Fettgewebes mit überhängenden Gewebeteilen.
Plötzlich Außenseiter!
In der Schule bemerkte ich, dass einige Mitschüler- und Mitschülerinnen begannen, sich mir gegenüber anders zu verhalten als zuvor. Zuerst tuschelten sie hinter meinem Rücken, dann sagten sie es geradeheraus: „Puh, Marie! Bist du fett geworden! Du siehst echt mies aus. Tu doch etwas dagegen!“
Mir fiel in diesem Moment keine Antwort ein. Stattdessen kämpfte ich mit den Tränen. Ich wusste, egal, was ich antworten würde, es würde alles wie eine klägliche Rechtfertigung klingen. Da begriff ich: Durch meine kräftigen Beine war ich in den Augen meiner Schulkameraden längst zu dem geworden, was ich nie sein wollte: ein Loser, ein Opfer, ein Außenseiter!
Die Scham beherrschte mein Leben
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Die Scham beherrschte mein Leben
Von diesem Tag an begann ich, meine Beine zu verstecken. Ich vermied es, mich im Spiegel anzuschauen. Außerdem aß ich immer weniger, fühlte mich dementsprechend schlapp, energielos und unglücklich. Am liebsten wäre ich morgens einfach liegengeblieben. Nichts erschien mir noch Sinn zu machen. Wozu lernen? Egal, wie gut meine Noten sein würden – mir würde ohnehin niemand eine Ausbildungsstelle anbieten. Ich wollte Friseurin werden und dann eine Weiterbildung zur Make-up-Artistin machen. Aber mit meinen massigen Beinen würde mir niemand zutrauen, acht Stunden täglich zu stehen. Und wollte ich mich wirklich tagtäglich mit lauter hübschen, gut gestylten Menschen umgeben? Ich würde doch immer fehl am Platze wirken, wie ein Fremdkörper.
Mit der Diagnose wurde alles besser
Zum Glück ließ meine Mutter nicht locker. Gemeinsam besuchten wir einen Arzt nach dem anderen. Ich kann heute gar nicht mehr sagen, wie viele es gewesen sind. Diverse Diagnosen wurden gestellt. Da war von Orangenhaut und Adipositas die Rede. – Heute weiß ich, dass ich da kein Sonderfall war. Es dauert oft lange, bis ein Lipödem diagnostiziert wird. Das liegt daran, dass die Symptome und Beschwerden von Fall zu Fall sehr unterschiedlich ausfallen können – und zudem von Patient zu Patient anders wahrgenommen werden. Verwechslungen kommen daher gar nicht mal so selten vor.
Schließlich war es ein Phlebologe (Venenarzt), der meine Krankheit erkannte. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte – denn er erklärte mir, dass ein Lipödem nicht heilbar ist. Dennoch war ich vor allem eines – erleichtert. Denn endlich wusste ich, woran ich litt. Und ich erfuhr, dass sich die Symptome mit einer gezielten Therapie abmildern lassen. Der Arzt empfahl mir eine Kompressionstherapie, und die hat mir auch wirklich sehr gut geholfen. Die Fettansammlungen an meinen Beinen sind sichtbar zurückgegangen. Endlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, hilflos zu sein. Das hat mir wieder Energie und neuen Lebensmut geschenkt. Ich habe mir eine Selbsthilfegruppe gesucht und über meine Erlebnisse und Ängste gesprochen. Ich habe erkannt, dass ich kein Einzelfall bin – und dass mein Aussehen mich als Mensch nicht definiert.
Bodyshaming adé!
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Bodyshaming adé!
Es hat noch eine ganze Weile gedauert, aber ich habe nun gelernt, mich so anzunehmen, wie ich bin. Ich habe Frieden mit meinem Aussehen geschlossen. Endlich kann ich wieder unbeschwert auf die Straße gehen. Das feiere ich! Kompressionstrümpfe und Strumpfhosen habe ich in allen erdenklichen Farben. Ich trage sie wie Mode-Accessoires und voller Dankbarkeit. Niemals wieder, das habe ich mir geschworen, werde ich mir von irgendjemandem sagen lassen, dass irgendetwas an mir nicht richtig ist. Zu dick, zu dünn, zu klein oder zu groß – dass gibt es nicht! NIEMAND sollte sich so etwas einreden lassen, denn jeder hat das Recht, genauso zu sein, wie er ist. Und davon einmal abgesehen – auf das Äußere kommt es, wenn es um die Wertigkeit eines Menschen geht, ohnehin nicht an. Viel wichtiger sind die Persönlichkeit und der Charakter.
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Karin Pütz
Karin Pütz arbeitet als Journalistin und Autorin für verschiedene deutsche Verlage und Fernsehsender. Neben wissenschaftlich-medizinischen Fachbüchern, die in enger Zusammenarbeit mit Ärzten entstanden sind, hat sie Biografien (von Prominenten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens) sowie Kinderbücher veröffentlicht. Darüber hinaus verfügt sie über langjährige Erfahrung als Redakteurin im News-, Wissenschafts- und Magazinbereich.
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